Dirk Rose schreibt eine Mediengeschichte als Geschichte der Medienkritik. Von Platon bis zum Smartphone geht es um die Kritik an einzelnen Medien und ihren Inhalten, die Kritik an Medienentwicklungen bzw. Medienwandelsprozessen und um die Kritik an der Gesellschaft, die sich der jeweiligen Medien bedient.
Die Umkehrung ist eingeschlossen: die Auswirkungen der Medienkritik auf die kulturelle Meinungsbildung und Geschmacksbildung.
Rose gibt einen wichtigen Hinweis, der in vielen oberflächlichen Mediengeschichten fehlt: Platons Kritik an der Schrift – genauer: an der Auslagerung von Gedächtnisinhalten in schriftliche Aufzeichnungen (im Dialog Phaidros) – gilt keiner neuen Erfindung, sondern einer schon seit Jahrhunderten etablierten Schriftkultur.
Unverdrossen drischt Thomas Pynchon, der jetzt angeblich 88 Jahre alt ist, altes Stroh. In der Halbwelt von 1929 ff. in Michigan wird munter palavert, es gibt hintergründige Machenschaften von Geheimdiensten und Institutionen, Songtexte werden eingestreut, und es fehlt nicht an einigen milden Absurditäten.
Die Hauptfigur, der Privatdetektiv Hicks, hat erwartungsgemäß Charakterzüge, wie sie in der älteren populären Kriminalliteratur (Chandler; Ambler) üblich waren. Junge Frauen werden »Schnucken« (im Original »tomato«) genannt, die Kerle sind noch echte Kerle. Die sich über etliche Stationen und immer wieder ähnliche Figurenkonstellationen erstreckende Handlung will ich hier nicht nacherzählen. Zu den Absurditäten gehört das österreichisch-ungarische U-Boot aus dem 1. Weltkrieg, das im vereisten Lake Michigan herumschippert, die Werbung für radioaktiven Käse und das internationale Käsefälschungskartell. Die »Vierteljahreshefte für geschmacklose Lampen« und ein paar Formulierungen sind winzige heitere Lichtlein im ansonsten routiniert voranerzählten Text. Protagonist, Autor und selbstähnliche Handlung wandern von Amerika nach Budapest. Einen Moment lang habe ich erwartet, dass auf den erstaunlichen hohen Anteil von ungarischen Wissenschaftlern an der Produktion der ersten Atombomben angespielt würde. Leider Fehlanzeige. Die letzten 150 Seiten (bis auf die absolut letzten 5) habe ich überflogen, weil ich die Geschichte und die Erzählweise immer weniger interessant fand.
Routiniert ist auch die Übersetzung von gleich zwei Übersetzungs-Offizieren (Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren), die dafür gesorgt haben, dass Original und deutsche Fassung im selben Jahr erscheinen konnten.
Nicht ganz erfreulich ist die Innentypographie von Daniel Sauthoff. Das Bild zeigt, wieso.
Thomas Pynchon: Schattennummer. Hamburg: Rowohlt, 2025.
Das Buch – die Übersetzung ist als »Roman« bezeichnet, das Original The Hanky of Pippin‘s Daughter weist keine Genrebezeichnung auf – ist 1986 im Original herausgekommen. Übersetzt hat es die Sprachkünstlerin Ann Cotten, die in ihrem Nachwort, das die anderen Werke von Rosmarie Waldrop vorstellt, nicht auf ihr Markenzeichen verzichtet, die manirierten Genusbildungen (wie »Lesernnnie« statt Leser_/*/:nnen). Ein weiteres Nachwort schrieb Ben Lerner, der Waldrops Schreibweise knapp erläutert und ein wenig verteidigt, weil es in den USA nach der Veröffentlichung Irritationen über die Form gab, die sich keiner bekannten Kategorisierung zuordnen lässt.
Was für ein Kontrast – zu den kürzlich gelesenen Büchern von Elminger, Edelbauer oder gar Schneider. Michal Ajvaz ist ein hierzulande unverständlicherweise unbekannter Autor. Seine Übersetzerin Veronika Siska ist gleichzeitig seine deutsche Verlegerin im kürzlich gegründeten Münchner Allee-Verlag.
Der Roman beantwortet in 22 recht kurzen Kapiteln die Frage seines Erzählers auf atemberaubend heitere Weise:
Ist es möglich, dass in unserer nächsten Nähe eine Welt existiert, die vor sonderbarem Leben überbordet, die vielleicht früher als unsere Stadt hier gewesen ist, und von deren Existenz wir überhaupt nichts wissen? [65]
Einen Vorschein dieser anderen Welt erleben wir vielleicht schon in unserem Alltag, wenn wir beim Putzen einen Schrank beiseite schieben »und plötzlich in das ironisch gleichgültige Gesicht seiner Hinterwand« [66] blicken. Der Ich-Erzähler gerät durch die Ausleihe eines Buchs, das er in einer Bibliothek entdeckt hat, in eine andere Welt. Es zog ihn durch seinen samt-violetten Einband und seine rätselhafte unbekannte Schrift an. Diese Schrift schien ein eigenes Leben zu haben, Lichteffekte, Bewegung und schließlich eine dreidimensionale Bildwelt zu entwickeln, eine Stadt in, hinter, unter oder neben dem ihm bekannten Prag. Ein Bibliothekar berichtet am nächsten Tag vom Einbruch einer anderen Welt in die eigene, erzeugt durch ausführliches Inspizieren desselben Buchs, und macht Andeutungen über einen geheimnisvollen und gefährlichen Flügel seiner Bibliothek, den er selbst nicht mehr betreten wolle. Und dann gerät der Erzähler selbst in den Nachtstunden immer wieder für eine gewisse Zeit, indem er neugierig rätselhaften Hinweisen folgt, in diese andere Welt hinein.
Auf den Inhalt dieses Buchs kommt es gar nicht an. Dorothee Elmiger wird von der Kritik mehrheitlich dafür gelobt, dass sie Horror zu erzeugen vermag. Den Horror weitergeben, den die Protagonisten eines indirekt erzählten Erlebnisberichts gespürt haben sollen, als sie auf den Spuren von zwei verschwundenen Niederländerinnen durch ein Dschungelgebiet Panamas geistern. Die Protagonisten, unter anderem die Ich-Erzählerin, haben verschiedene Aufgaben in einer Schlingensief-inspirierten Theatertruppe, die einen Herzog-inspirierten Kampf mit den Elementen aufnimmt und in ein Conrad-inspiriertes Herz der Finsternis zu geraten droht. Die Gruppe nimmt die Spur der Verschwundenen auf, ist umständehalber aufeinander bezogen und gerät (durch die Reiseliteratur von Chaucer bis Dickens und darüber hinaus inspiriert) ins Erzählen. Ethnographisch ist nicht viel los in den Erzählungen, es ist also nichts (Hubert) Fichte-inspiriertes zu finden. Stattdessen einige Tropen-Phantasmen. Und ausreichend deutliche (aber dann in Form und Inhalt folgenlose) Anspielungen auf die Kritische Theorie, auf Sprachskepsis, auf Kolonialismuskritisches, was auch in beinahe jeder Rezension gewürdigt wird.
Der indirekte Bericht – die Erzählerin ist Zuhörerin einer Erzählerin, die wiederum Zuhörerin anderer Erzähler und Erzählerinnen ist – macht die Lektüre unbequem und stellt sich selbst in Frage, weil die erzählten Episoden letztlich perlenschnurartig aneinandergereiht sind und durch die Indirektheit nichts gewinnen.